Warum in Deutschland für fast alles ein Befähigungsnachweis benötigt wird – außer für Berufspolitiker
Deutschland ist bekannt für seine Bürokratie und hohen Qualifikationsstandards. Ob Ärzte, Ingenieure oder Handwerker – in fast jedem Beruf ist ein Befähigungsnachweis zwingend erforderlich. Selbst ausländische Fachkräfte müssen oft umfangreiche Prüfungen und Anerkennungsverfahren durchlaufen. Ein Bereich bleibt jedoch auffällig unreguliert: die Berufspolitik. Warum benötigen Politiker keine vergleichbaren Nachweise, obwohl sie maßgeblich die Geschicke des Landes lenken?
Der hohe Anspruch an berufliche Qualifikationen in Deutschland
Der deutsche Arbeitsmarkt und das Bildungssystem legen großen Wert auf hohe Standards. Berufe wie Arzt oder Ingenieur erfordern nicht nur ein langes Studium, sondern auch umfangreiche praktische Erfahrungen. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Berufserfahrungen ist ein komplexer und oft langwieriger Prozess. Ziel ist es, sicherzustellen, dass alle Fachkräfte in Deutschland die gleichen hohen Qualitätsstandards erfüllen. Dies ist besonders in der Medizin verständlich, wo die Qualifikation direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen betrifft.
Der Kontrast zur Berufspolitik
Im Gegensatz dazu gibt es keine formalen Qualifikationsanforderungen für Politiker. Weder ein spezieller Bildungsweg noch eine bestimmte Berufserfahrung sind notwendig, um politische Ämter zu bekleiden. Dies führt dazu, dass Menschen, die weitreichende Entscheidungen über komplexe Sachverhalte treffen, möglicherweise nicht über die notwendigen Kenntnisse oder Erfahrungen verfügen.
Beispiele aus der deutschen Spitzenpolitik
Ein Blick auf die Lebensläufe einiger prominenter deutscher Politiker zeigt, dass viele von ihnen nicht die für andere Berufsgruppen geforderten formalen Qualifikationen und Berufserfahrungen vorweisen können. Laut einer Statistik haben 35 Abgeordnete oder 5,6 Prozent aller Parlamentarier des Bundestags ihr Studium abgebrochen. Viele Abgeordnete versuchen, ihren Studienabbruch in offiziellen Biografien zu verbergen, indem sie lediglich das Studium erwähnen, ohne einen Abschluss anzugeben.
- Kevin Kühnert (SPD): Kühnert brach sein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ab und arbeitete in verschiedenen Positionen, bevor er 2019 stellvertretender SPD-Vorsitzender wurde. Seine politische Karriere begann hauptsächlich durch sein Engagement in der Jusos, der Jugendorganisation der SPD.
- Olaf Scholz (SPD) studierte Rechtswissenschaften in Hamburg und arbeitete als Rechtsanwalt. Zur Zeit Bundeskanzler.
- Katrin Göring-Eckardt: (Bündnis 90/Die Grünen): Sie begann ein Theologiestudium, brach dieses jedoch ab, um sich verstärkt der Politik zu widmen. Göring-Eckardt ist seit vielen Jahren in der Bundespolitik tätig und war unter anderem Präsidentin des Deutschen Bundestages.
- Christian Lindner (FDP): Lindner begann ein Studium der Politikwissenschaft, das er ebenfalls nicht abschloss. Er gründete mehrere Unternehmen und trat früh in die Politik ein. Heute ist er Bundesminister der Finanzen.
- Volker Wissing (FDP): Studium der Rechtswissenschaften, Zweites Juristisches Staatsexamen in Mainz. Bundesminister für Digitales und Verkehr.
- Omid Nouripour (Grüne): Nach seinem Studienabbruch arbeitete er in verschiedenen Jobs, darunter als Hotel-Aushilfe, Zeitungsausträger, Bücherverkäufer, Küchenhilfe, Kellner und Museumswärter
- Daniela Wagner (Grüne): War aktiv in politischen Bewegungen und baute einen grünen Kreisverband mit auf, während sie im Hessischen Landtag saß, ohne ihr Studium abzuschließen
- Joschka Fischer (ehemaliger Außenminister, Grüne): Besass als höhere Qualifikation nur einen Taxischein
- Claudia Roth (Grüne): Studierte zwei Semester Theaterwissenschaften, bevor sie eine andere berufliche Gelegenheit annahm
- Kathrin Vogler (Linke): Arbeitete nach dem Abbruch ihres Studiums als Küchenhilfe in der Studentenmensa und später als Geschäftsführerin bei der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner
Die Konsequenzen mangelnder Qualifikationsnachweise
Politiker treffen Entscheidungen, die das gesamte Land betreffen, einschließlich der Bereiche Bildung, Gesundheit, Wirtschaft und Sicherheit. Fehlende Qualifikationen und Fachkenntnisse können zu ineffizienten oder gar schädlichen Entscheidungen führen. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen fehlendes Fachwissen in politischen Entscheidungsgremien zu suboptimalen Lösungen geführt hat. Ein aktuelles Beispiel ist die Energiewende, deren Umsetzung häufig kritisiert wird.
Vergleich zu anderen Ländern
Ein Blick ins Ausland zeigt, dass andere Länder teilweise strengere Anforderungen an ihre Politiker stellen. In Frankreich müssen bestimmte Spitzenpolitiker oft die École nationale d’administration (ENA) durchlaufen, eine Kaderschmiede für die politische Elite. Auch in anderen Ländern sind politische Karrieren häufig mit einer umfangreichen Ausbildung und entsprechenden Qualifikationen verbunden.
Lösungsvorschläge
Um die Qualität politischer Entscheidungen zu verbessern, könnten auch in Deutschland formale Anforderungen an die Qualifikation von Politikern eingeführt werden. Denkbar wären etwa verpflichtende Weiterbildungen, Praktika in relevanten Bereichen oder spezielle Studiengänge für angehende Politiker. Auch regelmäßige Fortbildungen könnten dazu beitragen, dass Politiker stets auf dem neuesten Stand sind und ihre Entscheidungen auf fundiertem Wissen basieren.
Fazit
Während Deutschland hohe Anforderungen an berufliche Qualifikationen stellt, bleiben die Anforderungen an Politiker überraschend niedrig. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen politischer Entscheidungen ist es an der Zeit, auch in der Berufspolitik höhere Standards zu setzen. Ein systematischer Ansatz zur Qualifizierung von Politikern könnte nicht nur die Qualität der Entscheidungen verbessern, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in die politische Führung stärken.
Bildquellen
- Befähigungsnachweis: Thomas Imo/Thomas Trutschel /Photothek/Bundestag