
Klimapolitik im Koalitionsvertrag – Ambitionen ohne Antrieb
Der neue Koalitionsvertrag will sich klimapolitisch als innovationsfreundlich, sozial verträglich und wirtschaftsnah präsentieren. Doch hinter Begriffen wie „Technologieoffenheit“ und „wirtschaftlicher Tragfähigkeit“ verbirgt sich eine Politik, die den Weg zur Klimaneutralität bremst, statt ihn zu beschleunigen. Besonders deutlich wird das an vier zentralen Schwachstellen: fossile Übergangstechnologien, fossile Subventionen, soziale Schieflagen und dem Fehlen wirklich transformativer Alternativen.
1. Fossile Übergangsideologien: Die „Brücke“ zur Klimakrise
Die geplanten 20 GW Gaskraftwerke bis 2030 sollen die Versorgungssicherheit gewährleisten. Doch statt eines echten Umbaus zur Speicher- und Flexibilitätswirtschaft wird hier ein neuer fossiler Pfad zementiert – mit potenzieller Laufzeit bis 2060, wenn sich Investoren langfristige Amortisation sichern.
Konkrete Auswirkungen:
– Laut Agora Energiewende müssen die Emissionen Deutschlands bis 2030 um etwa 65% gegenüber 1990 sinken. Neue Gaskraftwerke konterkarieren dieses Ziel, besonders wenn sie nicht absehbar mit grünem Wasserstoff betrieben werden.
– Methanleckagen entlang der gesamten Lieferkette (besonders bei LNG) machen Erdgas klimaschädlicher als offiziell bilanziert. Methan hat über 20 Jahre ein etwa 80-mal höheres Treibhauspotenzial als CO₂.
– Der Bau neuer Infrastruktur für fossile Energie bedeutet: Kosten und Risiken für zukünftige Generationen, z.B. durch spätere Stilllegung, stranded assets oder erforderliche Subventionen für Wasserstoff-Nachrüstungen.
Konstruktive Alternative:
Ein konsequenter Ausbau von:
– flexiblen Speichern (Power-to-X, Batteriespeicher),
– Lastmanagementlösungen (z.B. intelligente Netze, bidirektionales Laden),
– saisonalen Speichern (z.B. durch Wärmespeicher und grünen Wasserstoff)
wäre sinnvoller und langfristig günstiger. Notwendig wäre auch ein Kapazitätsmechanismus, der klimaneutrale Reservekapazitäten fördert, nicht fossile.
2. Fossile Subventionen: Der blinde Fleck der Transformation
Der Vertrag schweigt zu den jährlich über 60 Mrd. € klimaschädlicher Subventionen (UBA 2021), darunter Dieselprivileg, Kerosinsteuerbefreiung und Dienstwagenregelungen.
Was das bedeutet:
– Diese Gelder unterlaufen nicht nur den CO₂-Preis, sondern setzen falsche Anreize für ressourcenintensives Verhalten.
– Sie führen zu sozialer Ungerechtigkeit: Dienstwagen- und Kerosinprivilegien nützen vor allem Gutverdienern und Vielfliegenden – während Geringverdiener über höhere Heiz- und Spritpreise die Energiewende mitfinanzieren.
Internationale Beispiele:
– Schweden hat seit den 1990er Jahren sukzessive umweltschädliche Subventionen abgebaut und zugleich die CO₂-Bepreisung sozial abgefedert. Ergebnis: stabile Wirtschaft, sinkende Emissionen, hohe Akzeptanz.
– Indien hat in mehreren Bundesstaaten Dieselsubventionen vollständig abgebaut und gleichzeitig Direktzahlungen an Landwirte eingeführt – ein Modell für soziale Kompensation.
Konstruktive Alternative:
Ein klimasozial gestaffeltes Klimageld (Rückzahlung der CO₂-Einnahmen pro Kopf) könnte Ungleichheiten ausgleichen und den Abbau fossiler Subventionen politisch tragfähig machen.
3. Soziale Dimension: Klimapolitik für wen?
Der Vertrag formuliert mehrfach das Ziel, soziale Überforderung zu vermeiden – doch konkrete soziale Ausgleichsmaßnahmen fehlen. CO₂-Bepreisung und steigende Energiepreise treffen Haushalte mit niedrigem Einkommen am stärksten, obwohl sie pro Kopf die geringsten Emissionen verursachen.
Kritische Punkte:
– Der Verzicht auf ein Klimageld trifft insbesondere Menschen ohne Eigentum, mit schlechter Wohnisolierung oder ohne Zugang zu Mobilitätsalternativen.
– Mieter:innen bleiben weitgehend schutzlos, da energetische Sanierungen in Form steigender Warmmieten umgelegt werden können – ohne dass ein echter Ausgleich vorgesehen ist.
– Im ländlichen Raum fehlt es an echten Alternativen zum Auto, während gleichzeitig keine strukturelle Förderung für ÖPNV und Radverkehr vorgesehen ist.
Konstruktive Alternative:
– Verankerung der Warmmietenneutralität bei Sanierungen.
– Ausbau öffentlicher Mobilität im ländlichen Raum mit garantierter Grundversorgung (z.B. per Rufbus).
– Klimageld pro Kopf als Rückerstattung von CO₂-Bepreisung.
4. Verpasste Transformation: Prüfaufträge statt Klartext
Statt verbindlicher Fahrpläne liefert der Vertrag viele „Prüfungen“, „Erwägungen“ und Absichtserklärungen. So etwa bei der Windkraft („wir prüfen Engpassgebiete“), Bioenergie („Deckelungen werden überprüft“) oder Solarenergie („wir erleichtern Parkplatz-PV“).
Was fehlt:
– Ein klarer Fahrplan für den Kohleausstieg vor 2030 – stattdessen: „abhängig vom Gaskraftwerkszubau“.
– Keine Verpflichtung zur Energiewende im Verkehr, wie z.B. E-Auto-Quote, Flugverkehrsregulierung oder Tempolimit.
– Keine konkreten Einsparziele für die Sektoren Verkehr, Landwirtschaft, Gebäude – obwohl diese seit Jahren die Zielverfehlung verursachen.
Konstruktive Alternative:
– Sektorale CO₂-Budgets mit jährlicher Kontrolle und Nachsteuerungspflicht (wie in Großbritannien).
– Verbindliche Zeitpläne für fossilen Ausstieg in allen Sektoren.
– Transparente Überwachung durch einen unabhängigen Klimarat, öffentlich zugänglich.
Fazit: Politik auf Sicht, wenn wir Weitblick brauchen
Der Koalitionsvertrag ist kein Totalausfall – aber er ist nicht der Aufbruch, den das 1,5-Grad-Ziel verlangt. Er blendet zentrale Konfliktlinien aus, verschiebt notwendige Entscheidungen und schiebt Verantwortung auf Prüfverfahren und Innovationsversprechen.
Wer echte Transformation will, braucht mehr als „Technologieoffenheit“: Man braucht Richtung, Prioritäten und den Mut, auch gegen etablierte Interessen zu handeln. Der Vertrag zeigt bisher wenig davon.
So könnte ein Ambitioniertes Maßnahmenpaket für 1,5-Grad-kompatiblen Klimaschutz in Deutschland aussehen.
1. Verbindliche CO₂-Budgets pro Sektor
• Gesetzlich festgelegte jährliche CO₂-Budgets für alle Sektoren (Energie, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Gebäude).
• Automatischer Nachsteuerungsmechanismus bei Zielverfehlung (wie z. B. in Frankreich oder dem UK-Klimarat).
2. Stromwende – 100 % Erneuerbare bis 2035
• Solarpflicht für Neubauten, Parkplätze, gewerbliche Gebäude.
• Beschleunigter Windkraftausbau mit Mindestzielen pro Jahr (nicht nur Flächenziele).
• Netzentgelte reformieren, um Eigenverbrauch & regionale Nutzung zu fördern.
• Strommarkt neu denken: Marktprämien für Versorgungssicherheit, nicht für fossile Reservekraftwerke.
3. Wärmewende – fossilfreie Gebäude bis 2040
• Verbindlicher Austausch von Öl- und Gasheizungen bis spätestens 2035.
• Massive Förderung für Wärmepumpen, Nahwärme und energetische Sanierungen, besonders für untere Einkommensgruppen.
• Mieterschutz: Warmmietenneutralität gesetzlich verankern.
• Abwärmenutzung verpflichtend machen (viele Industrien haben riesige ungenutzte Potenziale).
4. Mobilitätswende – weniger Verkehr, bessere Alternativen
• Mindestpreis für fossile Kraftstoffe (mit sozialem Klimageld-Ausgleich).
• Investitionsoffensive für Schiene, ÖPNV, Radwege, finanziert aus fossilen Subventionen.
• Tempolimit (120/80/30) – einfach, schnell, effektiv (bis zu 11 Mio. t CO₂-Einsparung).
• Ausbau des Deutschlandtickets zum bundesweit gültigen ÖPNV-Grundrecht.
5. Industrie & CCS/CCU
• CCS/CCU nur für echte „hard to abate“-Sektoren (z. B. Zement), nicht als Ausrede für fossile Gaskraftwerke.
• Green Industrial Deal: Förderung nur für klimaneutrale Produktionsumstellungen.
• CO₂-Grenzausgleichsmechanismus für Importe (wie EU-CBAM), gekoppelt an strenge Standards.
6. Landwirtschaft und Ernährung
• Einführung eines Landwirtschafts-CO₂-Budgets mit Absenkpfad.
• Förderung regenerativer Landwirtschaft (Humusaufbau, Agroforst).
• Reduktion der Tierbestände um 30–50 %, unterstützt durch Umschichtung der Agrarförderung.
• Klimagerechte Ernährung fördern (z. B. pflanzliche Alternativen in öffentlicher Beschaffung).
7. Finanz- und Steuerreform
• Abbau klimaschädlicher Subventionen (Diesel, Dienstwagen, Kerosin etc.).
• Einführung eines sozial gestaffelten Klimagelds (z. B. 150 €/Person vierteljährlich).
• Nachhaltigkeits-Check für alle staatlichen Investitionen („Klimavorbehalt“).
8. International und global gerecht
• Klimaschutz darf nicht auf Export von Emissionsvermeidung ins Ausland setzen:
◦ Nur echte, überprüfbare Kompensationen zulassen.
◦ Fairer Beitrag zu globalem Klimafonds (z. B. zur Finanzierung von Loss & Damage).
◦ Aufbau klimafreundlicher Lieferketten mit Partnerländern (z. B. grüne Stahlimporte aus Nordafrika).
9. Partizipation & Akzeptanz
• Klimabürger:innenräte auf Bundes- und Landesebene mit verbindlicher Stellungnahmepflicht.
• Verankerung des Klimaschutzes im Grundgesetz als Staatsziel.
• Spezielle Beteiligungsrechte für Regionen mit großem Wandelbedarf (z. B. Lausitz, Rheinisches Revier).
Ergebnis:
Mit diesem Paket könnte Deutschland:
• Das CO₂-Budget für das 1,5-Grad-Ziel (noch ca. 3–4 Gt CO₂) bis 2045 realistisch einhalten.
• Die Abhängigkeit von fossiler Energie nachhaltig beenden.
• Eine gerechte, resiliente und international glaubwürdige Transformation schaffen.
Bildquellen
- Titelbild: Composing aus:Bild von Herbert Aust auf Pixabay, Politiker aus photothek Bundestag


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